Gegen Amazon und Zalando haben kleine Online-Händler kaum eine Chance. Die Gründer von Vision AI wollen das ändern: Ihre KI soll Produktsuchen und Empfehlungen für Käufer verbessern.
Computerspiele entwickelt das Bielefelder Startup Vision AI eigentlich nicht. Wer die Website aufruft, taucht allerdings in eine rot-lilafarbene, dystopische Fantasiewelt ein, die Gamer an Echtzeit-Strategiespiele wie „Leage of Legends“ erinnern dürfte. Den Unterschied macht das Setting: Denn hier bekämpfen kleine Online-Händler große Versand-Riesen wie Amazon und Zalando. Durch Gier haben diese in der Erzählung des Startups eine trostlose Realität aufgebaut, in der Verbraucher sinnlose Dinge bestellen und Einzelhändler verdrängt werden. Nun setzten sich die „Schwachen“ zur Wehr – die Rüstung liefert ihnen das Startup in Form einer Software.
Und darum geht es letztlich bei Vision AI: Die Gründer haben eine KI-gestütztes Programm entwickelt, das kleinen Shops helfen soll, ihre Online-Verkäufe zu steigern. „Wir zeichnen dieses Fantasiebild, weil wir wollen, dass der E-Commerce aussieht wie eine Altstadt. Ich laufe durch Berlin und überall sehe ich schöne Läden, wo ich gerne reingehen will“, sagt Gründer Melvin Schwarz. Der 23-Jährige hat das Startup zusammen mit seinem Schulfreund Julian Meyer und Entwickler Berkan Cinar Ende 2021 gegründet.
Dass kleine Händler mit großen Versandhäusern in einem harten Wettbewerb stehen, ist in der Branche nicht neu, sagt Frank Rehme vom Mittelstand-Digital Zentrum Handel. Die Stelle berät Einzelhändler bei der Digitalisierung. Während früher Otto, Neckermann oder Quelle-Versand mit ihren Katalogen eine große Reichweite erzielten, übten heute große Plattformen wie Amazon Marktmacht aus. Ein Problem sieht Rehme in der fehlenden Sichtbarkeit kleiner Händler etwa auf Social Media und in wenig benutzerfreundlich aufgemachten Online-Shops. So würden etwa die Navigation, Produktsuche sowie Bestell- und Zahlungsmöglichkeiten die Customer Journey stark beeinflussen. „Händler sollten also beachten, dass ein Online-Shop wie der Aufbau einer neuen Filiale ist“, sagt Rehme. Der Handelsexperte empfiehlt sogar, erst die Marktplätze von Amazon und Co. zu nutzen, bevor Händler einen eigenen Shop aufbauen.
Kleine Händler schließen Shops auf Amazon und Zalando an
So machen es tatsächlich viele: Der Internetkonzern Amazon, der im Jahr 2022 über 500 Milliarden US-Dollar Umsatz erwirtschaftete, gibt an, dass rund die Hälfte aller weltweit verkauften Produkte von kleinen und mittleren Unternehmen stammen. Auf Zalando sind rund 7300 stationäre Händler mit Shops vertreten. Allerdings lassen sich die Online-Riesen die Reichweite, die sie Einzelhändlern bieten, teuer bezahlen: Amazon berechnet monatlich etwa 39 Euro für ein professionellen Anbieter und erhebt pro verkauften Artikel eine Provision von bis zu 15 Prozent. Zalando will seinen Abschlag künftig auf 25 Prozent anheben, wie das Handelsblatt berichtete.
Das Startup Vision AI will mittelständischen Händlern nun Marktmacht zurückgeben – mit besseren Tools und zu besseren Konditionen, so das Versprechen. „Große Retailer wie Amazon sind gut, aber auch extrem träge“, sagt Schwarz. „Im Gegensatz dazu sind kleine Online-Shops viel agiler und treffen Entscheidungen schneller.“ Durch ihre KI hätten Einzelhändler die Möglichkeit, unabhängig Daten zu sammeln und schnell besser zu werden, so der Gründer.
Mit visueller KI: Gründer will Amazon technisch übertrumpfen
Dafür stellen die Bielefelder Einzelhändlern verschiedene Werkzeuge bereit: Einerseits sollen die Tools den Arbeitsalltag erleichtern. Das geschieht zum Beispiel durch sogenanntes „Auto Tagging“. Dabei werden die Stammdaten von im Shop hochgeladenen Artikeln automatisch erstellt. Händler müssen so nicht mehr jede einzelne Hose mit Markennamen, Farben, Größen und Materialdaten händisch eintippen. Andererseits soll das System das Einkauferlebnis für Kunden verbessern. Dazu bieten die Gründer eine feinfühlige Suchfunktion, die Bilder detailliert auswerten kann. Über 30 Millionen Bilder hätten die Gründer nach eigener Aussage für ihre KI eingelesen.
Wenn Kunden eine genaue Vorstellung von einem Produkt haben, können sie die Eigenschaften in das Suchfeld eintippen. Zum Beispiel: Rotes T-Shirt, cropped, V-Ausschnitt und Sonnen-Print. Die KI sucht dann Artikel raus, die optisch passen. Zusätzlich ist das Modell mit einer Sprach-KI ausgestattet, die Texte erfasst. Dazu Schwarz: „Wenn es das beschriebene Produkt gibt, findet die Suche das auch. Man kann mit der KI sprechen wie mit einem echtem Mitarbeiter im Geschäft.“ Die „sehende“ KI könne dem Gründer zufolge auch stimmigere Kaufempfehlungen geben oder Konsumenten helfen, einen Model-Look nachzukaufen.
Schwarz ist überzeugt, die Modelle von Amazon und Zalando mit seiner Software inzwischen überholt zu haben. Er gibt ein Beispiel: „Wenn du dir bei Amazon ein 140 Meter breites Bett anschaust und auf die Produkt-Empfehlungen gehst, dann wird dort ein Lattenrost oder eine Matratze angezeigt, die vielleicht 160 Meter breit sind“. Der 23-Jährige findet das „total nervig.“ Sein Tool würde hingegen neben der richtigen Größe auch den Stil erkennen und dazu passend Kommoden oder Schränke vorschlagen. Das Konzept nennt sich „Cross Selling“.
New Balance und Gerry Weber zählen zu den Kunden
Die Software der Bielefelder nutzen eigenen Angaben zufolge heute rund 140 Kunden. Dazu zählen größere Unternehmen wie der US-Sportartikelhersteller New Balance und der deutsche Modekonzern Gerry Weber sowie mittlere Firmen, darunter Möbelhäuser wie Zurbrüggen und der familiengeführte Küchenzubehörhändler Weitz. Dabei hätten sich laut Schwarz zwei große Lager herausgebildet: Anbieter von Kleidung auf der einen Seite und Händler von Möbel- und Einrichtungs-Artikeln auf der anderen. „Beides funktioniert stark visuell“, so der CEO. Je nach Branche würden die Suchfilter auf unterschiedliche Details reagieren. Bei einem Händler von Arbeitsschutzkleidung seien es etwa ISO- und DIN-Normen. Dazu Schwarz: „Ein Feuerwehrmann muss sich darauf verlassen, dass er zum feuerfesten Anzug passende Handschuhe findet. Da wird es dann richtig interessant.“
Die Kunden zahlen monatlich für die Tools, die sie brauchen, einen Fixpreis. Dieser startet bei rund 490 Euro und richtet sich danach, wie viele Produkte Händler in ihren Shops anbieten. Bei der Suchfunktion fließt zudem die Anzahl an monatlichen Besuchern im Shop in die Preishöhe mit rein. Kleinerer Kunden würden bei rund 12.000 Euro im Jahr landen, bei größeren Händlern könnten die jährlichen Kosten auf mehrere hunderttausend Euro klettern. Günstig ist die Software damit auch nicht – gerade für finanzschwächere Einzelhändler.
Handelsexperte Rehme weist darauf hin, dass kleine Anbieter zusätzlich Kosten für digitale Warenwirtschaftssysteme und für Onlineshop-Baukästen etwa von Shopify schultern müssten. Das können im Monat rund 85 Euro sein. Da bei Modehändlern der durchschnittliche Warenwert bei 55 Euro liege, rund 60 Prozent der Waren aber retourniert würden, kommt Rehme zu dem Ergebnis, dass Händler mindestens 90 dieser Warenkörbe verkaufen müssten, um die von dem Startup monatlich angesetzten Kosten aufzubringen. „Als Händler beginnt man dann zu rechnen, ob man alternativ besser die Transaktionsgebühren von beispielsweise Zalando in Kauf nimmt und sich dort nicht um das Thema Reichweite kümmern muss“, so Rehme. Seiner Erfahrung nach, würden im E-Commerce hohe Beträge nur dann akzeptiert, wenn sie direkt messbare Erfolge bringen.
Auf diese verweist der Vision AI-Gründer. So sei die Technologie der Bielefelder etwa bei der Modemarke Frank Walder für 35 Prozent des gesamten Shop-Umsatzes verantwortlich. Dazu Schwarz: „Solche Daten musst du vorweisen können, denn einen Online-Händler kannst du nicht veräppeln.“ Zudem verspricht das Startup, ihre Software durch Plug-ins besonders schnell an bestehende Systeme anzudocken. Schwarz zufolge würde die Implementierung maximal vier Wochen dauern. „Du steckst es rein und es läuft. Wettbewerber brauchen dafür teilweise sechs bis zwölf Monate.“
Fünf Millionen für Startup: Christian Reber und Philipp Westermeyer investieren zum zweiten Mal
Investoren sehen in dem sogenannten „Computer Vision Modell“ der Bielefelder Potential. Vor fünf Wochen konnte das Gründer-Team rund fünf Millionen Euro vom Risikokapitalgeber HV Capital und bekannten Business Angels einsammeln. An der Runde beteiligten sich erneut Niklas Jansen, Gründer der Wissens-App Blinkist sowie Pitch-Gründer Christian Reber über ihren VC-Fonds Interface Capital. Zudem erhöhten Philipp Westermeyer, Podcaster und Gründer von OMR sowie Oliver Flaskämper, der den Krypto-Marktplatz Bitcoin.de aufgebaut hat, ihren Einsatz. Durch frühere Runden mit den Angel-Investoren sicherten sich die Junggründer bereits 1,5 Millionen Euro.
Das frische Kapital wollen Schwarz, Meyer und Cinar nun nutzen, um ihr Produkt auszubauen und in weitere Märkte vorzudringen. Derzeit baut das Trio einen zweiten Standort in London auf – ein strategischer Schritt. Großbritannien soll den größten E-Commerce-Markt in Europa haben und weltweit Nummer drei sein. Auch das Team des Startups soll sich von knapp 40 auf 65 Mitarbeiter vergrößern.
Dass die Gründer einmal ihre KI-Software an Einzelhändler verkaufen, war nicht immer der Plan. Denn das Trio verfolgte vor fünf Jahren noch eine andere Idee: Ihr Startup, das bis Anfang 2023 „Recommendy“ hieß, war ursprünglich eine App, über die große Möbelhändler ihre Produkte anbieten sollten, ähnlich dem Konzept von Instagram- oder Pinterest-Shopping. Nutzer konnten dort Fotos von Möbelstücken hochladen, die die visuelle KI der Bielefelder auswertete und dazu passende Sofas, Schränke und Tische der Händler vorschlug. Auf der Suche nach Kunden stellten die Gründer fest, dass Händler viel mehr an ihrer Software interessiert waren, statt an dem Marktplatz. Es kam zum Pivot.
Mit ihrem neuen Geschäftsmodell haben die Gründer innerhalb der letzten 14 Monate 1,5 Millionen Umsatz erwirtschaftet. CEO Schwarz reicht das noch nicht, er steckt sich hohe Ziele: Schon bald will er den Umsatz verdreifachen.
Author: John Chang
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